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Ein Ort des Grauens?

Da stehe ich jetzt also. Mitten im gesetzlosen Gebiet.
Hier gilt nur ein Recht und Gesetz: Das Gesetz des Stärkeren, das Gesetz der Straße!
Ich schaue mich noch einmal um, bevor ich den Ort betreten muss, denn ich habe jetzt schon Heimweh und bereue das erste Mal die lange Fahrt hier her.
Ob mein Auto später noch hier parkt, möchte ich fast schon bezweifeln. Zuviel Gerüchte und Geschichten hörte ich in letzter Zeit von denen, die von diesem Ort des Schreckens und der Angst zurückkehrten.
Am liebsten würde ich umdrehen und sofort wieder zurück nach Hause reisen, aber jetzt ist es dafür wohl schon zu spät.
Wie nicht anders erwartet, herrscht bei unserer Ankunft bereits ein überaus geschäftiges und quirliges Treiben in den schmutzigen engen Straßen und Gassen.
Häuser aus Stein, so wie wir sie kennen, sucht man hier erst einmal vergeblich.
Statt dessen überall notdürftig zusammengezimmerte und marode Bretterbuden und baufällig wirkende Hütten.
Keine Fenster - und mir fällt auf, dass teilweise die gesamte Vorderfront der niedrigen Behausungen fehlt.
Wer etwas zu verkaufen hat, um seinen armseligen Lebensstandard zu halten, der bietet die Ware auch direkt aus seiner Hütte durch die fehlende vordere Wand an. Wenigstens macht man hier aus der Not eine Tugend.
Elendig wirkende Kreaturen, dick angezogen und nur mit viel Fantasie als Menschen zu erkennen, taxieren mich aus frierenden Augenpaaren, sehen den potentiellen Kunden in mir und bieten mit ausgestreckten Händen ihre Ware feil.
Sie erregen Mitleid und Mitgefühl in mir, so wie sie da den ganzen Tag in ihren kalten, zugigen, windschiefen Bretterbuden stehen und auf Kundenfang gehen.
Die Ware eher als die Konkurrent an den Mann zu bringen, ist längst zum Lebensinhalt der armen Händler hier geworden.
Täglich wird der Kampf aufs Neue ausgetragen und über die Tricks, die List und die Tücke mit der das geschieht, wage ich kaum zu spekulieren.
Voller Mitleid und nicht ganz frei von Schuldgefühlen bin ich bereits nach wenigen Minuten bereit, ihnen mein gesamtes Hab und Gut zu überschreiben.
Die gefährlich, notdürftig verlegte Stromversorgung und die vielen unterschiedlichen gasbetriebenen Heizgeräte lassen mir die Haare zu Berge stehen.
In Gedanken male ich mir bereits das reinste Horrorszenario aus: Massenpanik!
Aber irgendwie scheinen sich hier Händler und Kunden mit den Umständen arrangiert zu haben.
Die vielen vorbei eilenden und schubsenden Leute nehmen kaum Notiz von uns und dass es jetzt zu schneien beginnt, macht die Sache auch nicht besser.
Wohin mein Auge auch schweifen mag, stehen dick angezogene Männer und Frauen in der Kälte. Ja, selbst Kinder und alte Menschen.
Sie alle stehen in Gruppen und stecken ihre Köpfe zusammen.
Die Erwachsenen können schon lange nicht mehr ohne den Alkohol leben. Mit warmem Wasser verdünnter Rotwein soll Körper und Geist wenigstens für einige Minuten wollige Wärme spenden.
Aus jeder noch so armselig anzusehender Behausung dringt seltsame, fremde Musik an mein Ohr und ich muss aufpassen, nicht schon wieder über die provisorischen Stromkabel oder Wasserschläuche zu stolpern.
Überall riecht es nach in heißem Öl Gebratenem.
Die Leute haben es längst aufgegeben nach der Herkunft des Essens zu fragen. Hauptsache der Magen bekommt für die nächste Zeit etwas zu tun.
Neben mir mache ich eine Gruppe junger Männer mit langen Bärten aus. Auch Sie trinken schnell und hastig vom heißen verdünnten Alkohol. Sie stecken ihre Köpfe zusammen und flüstern, während einer von Ihnen in seiner Tasche kramt und sich dabei immer wieder nervös umschaut. Ihren langen, roten Mänteln nach zu urteilen gehören die Männer irgendeiner religiösen Vereinigung oder Gruppierung an.
Der Suchende nestelt noch immer an seiner Tasche und sein Bart verrutscht ihm dabei. Nur ganz kurz, doch ich konnte erkennen, das zumindest dieser Mann sich mit einem falschen Bart verkleidet hat.
Die letzten Meldungen von Terroranschlägen schlagen wie eine Bombe in meiner Erinnerung ein, während ich die Gruppe weiterhin aus den Augenwinkeln beobachte.
Zu unser aller Glück hier, zieht der "Verkleidete" nur eine Flasche Hochprozentigen aus seiner Tasche und ich kann vorerst wieder aufatmen.
Irgend jemand rülpst mir von hinten ins Genick und sein Atem stinkt fürchterlich nach Alkohol und erinnert mich an das Wildtierhaus im Zoo.
Hier am Ende der Welt - am Ende jeglicher Zivilisation, scheinen Alkohol und eiligst fritiertes Essen das Einzige zu sein, woran sich die Menschen noch erfreuen können.
Wahrscheinlich gehen hier sowieso bald die Lichter aus, denn die Leute decken sich vorsichtshalber mit Kerzen ein. Farbe, Form und Größe scheinen eine eher untergeordnete Rolle zu spielen. Gekauft wird, was im Angebot ist. Hier kann langes Zögern zum Verlust seiner Bestellung führen.
Insgeheim schäme ich mich, wenn ich daran denke, wie hell und warm ich es zu Hause habe und dass dafür oftmals nur ein Knopfdruck nötig ist.
Billig verarbeitete Handschuhe oder ein Schal (sicherlich von ausgebeuteten, fernöstlichen Kinderhänden produziert), wechseln hier und da den Besitzer und das Geschäftsgebaren von Händlern und Kunden erinnert mich an alte Filmaufnahmen vom Schwarzmarkt.
Ein leerer Pappteller zeugt noch davon, dass man an einem Stand sogar irgend etwas kosten durfte. Doch die gierige und ausgehungerte Menschenmeute hat diesen in Sekundenschnelle leer gefressen.
Rücksicht und Anstand, dass sind hier, wo sich lange Schlangen bilden, Fremdwörter. Jeder ist sich selbst der Nächste.
Und so frage ich mich, was um Gottes Willen wir hier überhaupt machen?
Ich wende mich meiner Frau zu, drücke fest ihre Hand und sage:
"Lass uns den Weihnachtsmarkt verlassen! Heute ist es wieder so voll hier."

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12 Kommentare

Super geschrieben! *schlapplach*

Toll erzählt, so ähnlich war es in Nmb.auch.

Ich lass mich nicht abschrecken, einmal geht es mit der Nachbarschaft zur Glühweinparty auf den Altenburger Weihnachtsmarkt!!!

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