Schlösser, Burgen, Klöster – Durch das Calenberger Land zu Osterwald und Ith
Während das Land nördlich von Hannover ziemlich platt ist und in die norddeutsche Tiefebene übergeht, hat es südlich und westlich der Stadt einen ganz anderen Charakter. Dort beginnen, zunächst ganz zaghaft, die Ausläufer deutscher Mittelgebirge. Und dieses weite Land, das zwischen der Leine dem Deister und dem Osterwald liegt und das den Namen Calenberger Land trägt, haben wir uns als Ziel für eine Radtour ausgesucht.
Da es ein Sommertag im August ist und die Temperaturen auf 25 Grad steigen sollen, starten wir in Hannover schon in der Frühe. Knapp 150 Kilometer liegen vor uns, und zumindest ein Drittel davon werden wir in den angenehm frischen Morgenstunden radeln.
Gleich zu Anfang der Tour sind wir begeistert. Gegen halb sechs ist es zwar schon einigermaßen hell. Doch ein Drittel-Mond steht klar am Himmel. Rechts und nah von der Sichel funkelt der Planet Jupiter, und auf der anderen Seite, sozusagen in seinem Rücken, ein Stück weiter entfernt, die noch hellere Venus. Wie an einer Perlenschnur sind sie aneinander aufgereiht, die diagonal über den Himmel gespannt ist. Wow! Astronomiefans können sich an solchen Konstellationen kaum satt sehen.
Am Kronsberg beobachten wir zunächst einen Fuchs auf einer Pferdewiese. Wenig später steht ein Reh mitten auf dem Weg. So etwas bekommt man normalerweise nur als Frühaufsteher zu Gesicht.
Die Leine strömt träge durch die südliche Leineaue. Dampf steigt von der glatten Wasseroberfläche auf. Als wir den Großen Koldinger See erreichen, geht die Sonne glutrot über dem entgegengesetzten Ufer auf. Schwäne ziehen im rötlichen aufsteigenden Dunst ihre Bahn. Der Himmel ist voller Graugänse. Ein einziges Geschnatter. Es mögen wohl Hunderte sein. Und das sogar mitten im Sommer, denn im Winterhalbjahr sind es noch viel mehr. Dann machen hier auch die Zugereisten aus den nördlichen Breiten Station, und dann sind es manchmal viele Tausende.
Als wir die Seenplatte hinter uns haben, erreichen wir das Dorf Ruthe, an dessen Rand die Innerste, aus dem Harz kommend, in die Leine mündet. Man glaubt es kaum. Aber hier unter dem Ackerboden der Rübenfelder, nach Schliekum hin, befindet sich eine Hightech-Anlage der Leibniz-Universität Hannover. Ein Gravitationswellendetektor. Das ist weltweit einmalig. Astro-Physiker suchen damit nach Schwerkraftwellen, die durch Neutronensterne, die Kollision Schwarzer Löcher oder durch die Explosione einer Supernovae entstehen können. Gravitationswellen durch Schwerkraft, die den unterschiedlichen Ablauf der Zeit durch Raumkrümmung beeinflussen. So wie ein Stein Ringe erzeugt, den man ins Wasser wirft. Gibt es sie wirklich? Die Wahrscheinlichkeit ist groß. (Im Jahr 2015 wurden sie, auch mit Hilfe dieser Anlage, entdeckt.) Wir sind gespannt, ob sich Einsteins Theorie bestätigen wird.
Das nächste Dorf, Schliekum, hat nicht nur eine kleine schöne Kapelle, sondern hat ebenfalls eine Besonderheit zu bieten. In der nahen Kiesgrube haben Hobbyarchäologen in den neunziger Jahren Knochen des Neandertalers gefunden, die etwa 40 000 Jahren alt sein sollen. Damit ist Schliekum neben dem Neandertal bei Düsseldorf die einzige Fundstelle in Deutschland und die nördlichste dieses Frühmenschen in ganz Europa. Das beeindruckt schon irgendwie. Doch es geht in Schliekum noch eindrucksvoller. Im Jahr 2002 fand ein Hobbyarchäologe das Knochenfragment eines Frühmenschen, eines Homo erectus. Geschätztes Alter irgendwo zwischen 250 000 und 700 000 Jahren. Die Wissenschaftler streiten noch darüber. Das ist nicht viel weniger als sensationell. Und damit wurde Sarstedt, wozu Schliekum gehört, in Fachkreisen weltweit bekannt.
Als die Sonne schon ein Stück höher steht, erreichen wir den Ort Schulenburg - Welfenland. Gleich vorne an der Straße, die nach Rössing abzweigt, liegt das Welfengut Calenberg. Dort wird gerade restauriert, denn sein ehemaliger Besitzer, Ernst August junior, hat es verkauft. Es wird in einen Reiterhof umgewandelt. Ernst August Senior, Prinz von Hannover und Ehemann von Caroline von Monaco, ist dort aufgewachsen und hat dort seine Kindheit verbracht. Die Welfen sind nicht nur das älteste Adelsgeschlecht Deutschlands, sondern sogar ganz Europas. 1200 Jahre reicht ihr Stammbaum zurück. Und sie stellten im 18. und 19. Jahrhundert sogar die englischen Könige, da diese Probleme bei der Erbfolge hatten. Das alles ist beachtlich. Doch nun haben die jungen Leute, die Erbfolgeprinzen, die in London und Amerika leben, kein Interesse mehr daran. Aber sie haben ja noch andere Stützpunkte in der Gegend, auf die wir gleich zu sprechen kommen werden.
Nun folgen wir jedoch erst der Straße nach Rössing. Gleich am Ortsende verwandelt sich der Asphalt in Kopfsteinpflaster und die Fahrbahn verengt sich auf eine Spur. Wir überqueren die alte Leinebrücke, die 1751 aus Sandstein erbaut wurde. Es lohnt, den Weg hinter der Brücke nach rechts reinzufahren, ergibt sich doch von dort ein schöner Blick auf das Bauwerk mit seinen geschwungenen Bögen. Und man sieht es noch ein zweites Mal, auf dem Kopf stehend, denn es spiegelt sich wunderbar auf der glatten Wasseroberfläche.
Nur wenig weiter auf der linken Straßenseite erhebt sich der Calenberg. Immerhin 70 Meter ist er hoch. Auf ihm stand einst, von zwei Leinearmen umgeben, die Calenburg, die einmal wichtigste Burg des Calenberger Landes. Vor gut 700 Jahren wurde sie als Wasserburg angelegt. Als nach dem Mittelalter Feuerwaffen aufkamen, wurde sie zur Festung ausgebaut, um den Hildesheimer Bischof im damaligen Zwist Parolie bieten zu können. Nach dem Dreißigjährigen Krieg wurde sie geschleift, so dass heute nicht mehr viel davon übrig geblieben ist. Immerhin ein hoher Ringwall, in einem verwunschenen Wald gelegen, das rustikale Gemäuer des Batterieturmes und diverse Kellergewölbe, die mit Taschenlampe erforscht werden können. (Nur bitte nicht während der Fledermausschutzzeit vom 1. Oktober bis zum 31. März.) Es lohnt sich, Gruseleffekt eingeschlossen. An anderer Stelle habe ich darüber ausführlicher berichtet (Die Ruine der Feste Calenberg).
Weiter folgen wir dem Straßenverlauf und erreichen nach Überquerung der Eisenbahnlinie, die nach Hildesheim führt, das Dorf Rössing. Und das hat einiges zu bieten. Natürlich das Wasserschloss der Familie Rössing. Im Jahr 1132 wurde deren Rittergut erstmalig erwähnt. Und heute lebt die Familie Rössing immer noch darin. Wie viele Generationen müssen das sein, sind doch seitdem 900 Jahre vergangen. Die ursprüngliche Anlage wurde 1631 zerstört, die jetzt stehende 1579/89 wieder aufgebaut. Eindrucksvoll und ungewöhnlich ist der Turm der Anlage. Das Schloss selber kann nicht besichtigt werden. Doch als wir durch den Schlosspark schlendern, der bis zum Wassergraben betreten werden darf, lernen wir die ältere Frau Rössing kennen, die gerade am Gärtnern ist. Sie erzählt uns freundlicherweise einiges über die Historie und auch, dass sich im Wassergraben ein Biber angesiedelt hat. Neben dem Schlosspark befindet sich ein schöner See, und hinter dem Schloss der Rössinggraben, der Mühlgraben war. Die einstige Wassermühle dort war bis 1961 in Betrieb. So hatte es Frau Rössing erzählt. Wir sehen uns deren Reste an.
Nun machen wir eine Kehrtwende und radeln wieder nach Schulenburg zurück. Mitten durch das lange Dorf hindurch, und dahinter sogar bergauf. Die Höhe des Schulenburger Berges muss erklommen werden. Und auch diese kleine Anstrengung lohnt sich, denn dort oben steht ein wahrhaftiges Märchenschloss, Schloss Marienburg. Die Gebrüder Grimm hätten sicherlich ihre Freude an ihm gehabt. Wir allerdings auch. Jedem Märchenfilm würde es zur Ehre gereichen. Georg V., König von Hannover, wollte es seiner Frau Marie zum Geburtstagsgeschenk machen. Welcher Mann kann da schon mithalten. Doch daraus wurde leider nichts. Der Bau war noch nicht ganz fertig, da kam es 1866 bei Langensalza zur Schlacht des Hannoverschen Königreiches gegen die Preußen. Der Kampf wurde zwar gewonnen, doch danach waren die Truppen mangels Munition und Verpflegung nicht mehr einsatzfähig. So kam Hannover zu Preußen, und die Königsfamilie musste nach Österreich ins Exil gehen. Immerhin hatte Marie noch kurz im Schloss gelebt. König Georg allerdings nicht mehr. Selbst sehen konnte er das Schloss sowieso nicht, war er doch schon in seiner Kindheit durch einen Unfall erblindet. Aber er hatte ein maßstabgetreues Modell der Marienburg anfertigen lassen, so dass er dieses zumindest befühlen konnte und eine Vorstellung davon hatte. Und dieses Modell kann man heute noch bei einer Führung durch die sehenswerten Räumlichkeiten bewundern. Natürlich erfährt man dabei auch eine Menge Wissenswertes über die Welfenfamilie. Leider wurde im Jahr 2005 bei einer großen Aktion ein Teil des Inventars versteigert. Einen Rekordgewinn von 44 Millionen Euro konnten die Welfenprinzen dabei erzielen. Immerhin fließt ein Teil des Geldes in die Erhaltung des Schlosses, und man kann sich vorstellen, was so etwas kosten mag.
An diesem Tag machen wir keine Führung mit, haben wir das doch schon oft genug getan. Aber empfehlen möchte ich sie unbedingt. Auch eine Turmbesteigung lohnt sich, denn von dort oben hat man einen herrlichen Blick über das Calenberger Land, und auch nach Süden hin ins Leinebergland. Immerhin spazieren wir einmal um die Schlossanlage herum. Und die ist von jeder Seite attraktiv. Bis ins kleinste Detail wurde hier alles geplant und verwirklicht. Romantik pur. Immer wieder sind wir beeindruckt davon.
Nach ausreichender Würdigung, auch der alten Wallanlage durch die der Weg führt, denn einst stand an dieser Stelle eine Burg, machen wir uns an den Weiterweg. Und der macht viel Spaß, denn in zahlreichen Kurven geht es in sausender Fahrt durch den Wald zur Leinebrücke hinunter. Als wir Richtung Nordstemmen radeln, blicken wir noch einmal zurück auf das herrlich über dem Hang gelegene Schloss. Was für ein prächtiger Anblick!
Mit dem Dorf Burgstemmen erreichen wir bald darauf die nächste Sehenswürdigkeit. Auf einer Anhöhe über der Leine namens Poppenberg liegt die Poppenburg. Viel ist davon nicht übrig geblieben, aber es ist trotzdem ein romantisches Fleckchen. Einst war sie die Stammburg der Bocks von Wülfingen, die sie vom Bischof von Hildesheim zum Lehen erhalten hatten. Strategisch lag sie an günstiger Stelle am Leineübergang des Hellweges, der von Aachen nach Goslar führte und Westdeutschland mit Mitteldeutschland verband. Wir gehen um das alte Gemäuer herum, das Kaiser Heinrich III. vor fast 1000 Jahren dem Bischof von Hildesheim zum Geschenk gemacht hat und betrachten es von allen Seiten. Davor befindet sich eine kleine Allee mit knorrigen Bäumen und eine Streuobstwiese. Eine schöne Anlage, die noch mittelalterlichen Charme hat.
Im Dorf Wülfingen, das wir kurz darauf erreichen, treffen wir schon wieder auf die Bocks. Dort steht mitten im Ort, von neugebauten Häusern umgeben, was nicht so recht passen will, ein Mausoleum der Familie Bock. Natürlich muss auch dass von allen Seiten betrachtet werden.
Als wir hinter dem Ort die B 3 überquert haben, um für ein Picknick eine Höhe mit vielversprechender Aussicht anzusteuern, treffen wir zufällig am Wegrand auf eine Steinsäule. Eine Gravur darin klärt uns darüber auf, dass hier einst die „Königstraße“, eine alte Heerstraße, entlangführte. Bis 1770 wurde sie befahren. Via Regia wurden sie auch genannt. Diese Straßen bildeten ein wichtiges Wegenetz kreuz und quer durch Deutschland. Die Königstraße folgt kurz einem Feldweg, ehe sie in von Sträuchern bewachsener Natur, aber noch gut erkennbar, verschwindet.
Weiter radeln wir nun bei hoch stehender Sonne und blauem Himmel durch ländliche Gegend. Und im Dorf Sorsum ist es wirklich ländlich. Auf einer Wiese schnattern viele schneeweiße Gänse. Auf einer alten Hochspannungsleitung an einem Hof sitzen unzählige Schwalben, wie Noten auf einem Notenblatt. Sie putzen ihre Flügel und genießen wohl auch die angenehm wärmenden Sonnenstrahlen. Das sind Bilder, die mich an Kindheitsferien bei meinen Großeltern auf dem Lande erinnern. So auch der Anblick der schönen Dorfkirche. Aber auch jedes Dorf hat seine schöne kleine Kirche, von denen die meisten aus dem Mittelalter stammen. Wie viele Generationen sind dort ein- und ausgegangen. Was haben diese alten Gemäuer nicht alles erlebt. Und wenn Steine sprechen könnten, hätten sie eine Menge zu erzählen. Leider wurde auf fast allen Kirchhöfen, die die Kirchen umgeben, zu gut aufgeräumt. Die alten Grabsteine sind verschwunden, die so viel aus früheren Zeiten berichten könnten. Immerhin in manchen Dörfern um Hannover herum sind noch einige erhalten. So zum Beispiel in Wilkenburg und in Algermissen. Sie sind vor drei- bis vierhundert Jahren aufgestellt worden und zeigen so manches schöne Relief.
Weiter auf der von Bäumen gesäumten Landstraße geht es auf das Dorf Wittenburg zu. Nach links erheben sich voraus die grünen, steil ansteigenden Hänge des Osterwaldes. Zur Rechten ergibt sich ein besonders schönes Bild. Caspar David Friedrich hätte seine helle Freude daran gehabt und diese romantische Szene vermutlich sofort gemalt. Auf einer Anhöhe, die Finie genannt wird, steht eine trutzige Kirche. Einst stand dort oben sogar eine Burg, die Wittenburg. Um 805 wurde sie errichtet. Sie lag an strategisch günstiger Stelle, führte doch hier der Hellweg vorbei, dem wir schon an der Poppenburg begegnet sind.
Natürlich müssen wir dort hinauf und alles aus der Nähe betrachten. Die Neugier lässt uns schneller in die Pedalen treten. Durch das kleine Dorf geht es einen steilen Weg bergan. Dann stehen wir vor dem alten Gemäuer. Die Kirche, 1497 erbaut, gehörte einst zu einem Augustinerinnenkloster. Nach der Reformation wurde es von den Schwestern verlassen und verfiel so allmählich. Als ihm Kaiser Wilhelm 1889 einen Besuch abstattete, ordnete er an, nachdem die Kirche sogar als Schafstall Verwendung fand, dass sie wieder instand gesetzt werden solle. Heute finden in ihr viele Veranstaltungen statt.
Wir gehen um das trutzige Gemäuer herum. Es wirkt fast wie eine Festung. Dadurch hat es seinen ganz eigenen Charme, und es beeindruckt. Dazu der weite Blick zur Marienburg hin und nach Süden auf das Leinebergland. Links der Leine die Sieben Berge, deren Kuppen sich nach Alfeld hinziehen. Haben diese vielleicht die Gebrüder Grimm inspiriert, die nicht weit entfernt lebten? Rechts der Leine der Thüster Berg mit dem Kahnstein, der mit seinen unzähligen Felsen ein beliebtes Klettergebiet ist. Oft waren wir dort oben in den senkrechten Wänden unterwegs. Vor so viel Schönheit direkt vor der Nase und auch in der Weite muss man erst mal ergriffen durchatmen. Doch irgendwann müssen wir uns von diesem schönen Fleckchen Erde trennen. Mit Blick auf die Dächer des Dorfes und den nahen Osterwald geht es zur anderen Seite wieder hinunter. Über Feldwege und eine kleine von Bäumen gesäumte Straße geht es durch die Feldmark unserem nächsten Ziel entgegen.
Direkt am Fuß der bewaldeten Hänge des Osterwaldes erreichen wir es. Es ist das Kloster Wülfinghausen. Im Jahr 1236 wurde es gegründet. Im 14. Jahrhundert brannte es ab und wurde wieder aufgebaut. Im 18. Jahrhundert brannte es erneut ab und wurde wiederum aufgebaut. So ist es bis heute erhalten. Wurde es früher von den Augustinerinnen bewohnt, so wurde es nach der Reformation ein evangelisches Damenstift. Heute leben darin die Schwestern des Ordens der evangelischen Communität Christusbruderschaft.
Wir werfen einen Blick durch den alten Torbogen auf den Innenhof des Klostergutes. Die Zeiten der Sicheln und Dreschpflegel sind lange vorbei. Moderne Trecker und Mähdrescher sind dort geparkt. Danach auch ein Blick in die Klosterkirche, dann geht es durch den Klosterpark und eine schöne Allee mit knorrigen Bäumen zum Waldrand hinauf.
Unser nächstes Ziel liegt dort oben in den Bergen. Es ist ein verwunschener Teich in der Nähe des Ausfluglokales Sennhütte. Wir folgen einfach einem Waldweg, der steil hinaufführt. Irgendwie werden wir über ihn schon ans Ziel gelangen. Doch so einfach wird’s uns nicht gemacht. Nach kräftezehrendem Anstieg und etwa 200 Höhenmetern führt der Weg in einem Kreis wieder zurück. Na, toll. Also erst mal die wilde Waldgegend ohne Rad erkunden. Schon nach wenigen Metern treffen wir auf einen kleinen Pfad. Also die Räder nachgeholt und ihm gefolgt. Und nach wiederum wenigen Metern stoßen wir auf eine alte verrottete Hinweistafel. Wie sie erläutert, stand an dieser Stelle einst die Barenburg. Entstanden ist sie, so wird vermutet, da noch keine Ausgrabungen stattgefunden haben, in der vorrömischen Eisenzeit. Gedient hat sie wohl als Fluchtburg für die Bevölkerung der Umgebung. Auch noch bis ins Mittelalter hinein, gehörte sie doch später zum Kloster Wülfinghausen. Die Anlage war mit 5,5 Hektar sehr groß. Geschickt wurden hier die natürlichen Geländestrukturen ausgenutzt. Nach Süden hin ein fast 300 Meter langer Wall, der teilweise noch erhalten ist. Nach den anderen Seiten wurde sie von steil abfallenden Bergflanken oder sogar Felsabbrüchen geschützt.
Wir folgen einfach dem kleinen Pfad und landen schließlich an dessen Ende an einem Felssporn, der Königskanzel. Zu drei Seiten geht es tief hinunter. Kein Weiterkommen zur Sennhütte. Doch das macht nichts, denn wir sind begeistert von diesem Platz, den wir so wild und ausgesetzt im Osterwald nicht vermutet hätten. Wir können uns gut vorstellen, dass diese Fluchtburg wohl kaum einzunehmen war. Durch die Baumlücken ergibt sich ein Blick auf die gegenüberliegenden Hänge. Um uns herum stehen verkrüppelte Süntelbuchen, in deren Stämme Besucher ihre Namen und Herzen geschnitzt haben. Ein mystischer Platz.
Schneller als gedacht sind wir wieder in Kloster Wülfinghausen. Es war zwar ein kraftraubender, aber doch hochinteressanter Umweg. Nun sind wir aber richtig. Über das Waldhaus Mehle gelangen wir nach Mehle hinunter, wieder auf 100 Meter Höhe. Also noch mal 250 Meter zum nächsten Etappenziel hinauf. Doch es ist ein schöner Weg. Zunächst durch Felder wieder zum Waldrand, dann langgezogen durch den Wald hindurch. So erreichen wir gegen Mittag den Ort Osterwald.
Der kleine Ort Osterwald liegt am südlichen Ende des kleinen Gebirges. Er allein ist einen Ausflug wert. Er schmiegt sich an die Hänge. Die Straßen sind zum Radeln steil. Aber natürlich ist das für Hobby-Radfahrer reizvoll. Bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts wurde im Berg Steinkohle abgebaut, und das seit über 400 Jahren. Überall trifft man auf Zeugen dieser vergangenen Epoche. Oben am Waldrand gibt es ein Bergwerksmuseum. Gleich daneben befindet sich der Eingang zu einem Besucherstollen, ein so genanntes Mundloch. Es ist mit einem Gitter verschlossen. Doch an einem anderen Tag, wenn wir mehr Zeit dazu haben, werden wir uns mal einer Führung anschließen und auch das Museum erkunden.
An anderer Stelle sehen wir ein schönes Herrenhaus, das 1827 errichtet wurde. Es war das Wohnhaus des Direktors der einstigen Glashütte. In ihr wurde, als Hannover noch Kurfürstentum war, ein spezielles Hohlglas angefertigt. Zunächst hatte es goldene Ränder, später aus modischen Gründen blaue. Wer sich heute noch im Besitz solcher Gläser befindet, kann sich glücklich schätzen, denn sie haben einen enormen Wert. Grundmauern der Fabrik sind noch erhalten, ebenso Arbeiterhäuser.
Nun wollen wir den schönen Ort verlassen, von dem diverse Wanderwege starten. Wir wählen den Spitzbubenweg zu den Höhen hinauf. Es darf geklettert werden, und wir kommen dabei ordentlich aus der Puste. Aber es ist an diesem schönen Tag mit viel blauem Himmel im Schatten des Waldes sehr angenehm. Laub- und Nadelbäume wechseln ab. Natürlich müssen wir auch an die unglaubliche Geschichte denken, die sich hier kürzlich ereignet hat, und die deutschlandweit durch die Medien ging: Eine Kindergartengruppe war im Wald unterwegs. Plötzlich verschwand ein Kind in einer dunklen Spalte des Waldbodens. Ohne zu zögern sprang eine Erzieherin hinterher. Der Spalt war ein 25 Meter tiefer Schacht, der zu einem Stollen führte. Und wie durch ein Wunder passierte den beiden nichts. Sie landeten im eiskalten Wasser. Die Erzieherin konnte den Jungen so lange über Wasser halten, bis sie nach eineinhalb Stunden langen Wartens von der Feuerwehr gerettet werden konnten. Ministerpräsident McAllister ließ es sich letzte Woche nicht nehmen, nach Osterwald zu kommen, um die Erzieherin mit einer Verdienstmedaille auszuzeichnen.
Oben auf der Höhe erreichen wir das Berggasthaus „Sennhütte“. Sicher kann man dort gut einkehren. Doch wir haben anderes vor, wir suchen den alten Steinbruch, der in einem Naturschutzgebiet liegen soll. Über einen schmalen Pfad finden wir ihn schließlich. Früher wurde hier Sandstein abgebaut. Doch irgendwann und warum auch immer hat sich der Steinbruch mit Wasser gefüllt. Und so ist ein idyllischer Teich, zum Teil umgeben von senkrechten Felswänden, entstanden. Auf einer Bank mit schönem Blick auf diese eindrucksvolle Natur legen wir ein Picknick ein. Dann sind wir gestärkt für die Weiterfahrt. Doch die wird zunächst alles andere als anstrengend, denn bald geht es über holprige Waldwege bergab.
Nach einer Weile öffnet sich der Wald. Wir erreichen das freie Land, das sich zum nördlichen Ende des langgezogenen Ith hin ausbreitet. Und direkt vor dessen steilen Hängen liegt der schöne Ort Coppenbrügge, der etwa 1000 Jahre alt ist. Uns interessiert mitten im Ort die Ruine der Burg, die die Grafen von Spiegelberg vor 700 Jahren als Wasserburg errichten ließen. Sie diente zur Sicherung des vorbeiführenden Hellweges, den wir nun schon gut kennen. Er führte als Knüppeldamm durch ein nahes Sumpfgebiet.
Der Eingangsbereich der Burg ist noch gut erhalten. Trutzig und mit dicken Mauern wirkt er sehr kompakt. Davor der Wassergraben. Durch einen Tunnel gelangt man in den Innenhof, in dem noch ein Fachwerkbau des später an dieser Stelle entstandenen Schlosses erhalten ist. In ihm ist ein Museum untergebracht. Wir werden es uns ein anderes Mal ansehen. Darüber, auf dem waldreichen Teil der romantischen Anlage, steht die „Peterlinde“, die einst der Zar von Russland selber gepflanzt haben soll. Er war nämlich im Jahr 1697 auf seiner Reise von Moskau nach Amsterdam mit großem Hofstaat hier vorbeigekommen und hat in der Burg sogar genächtigt. Die Damen des Hannoverschen Fürstenhauses reisten deswegen extra an, um den großen Herrscher persönlich kennenzulernen. Und es sollte sich lohnen. Kurfürstin Sophie und deren Tochter Sophie Charlotte waren bei einem abendlichen Festessen so angetan von dem jungen Mann, dass sie es schriftlich festhielten und darüber heute noch nachgelesen werden kann. Sie sollen sich mit dem Zaren sogar so gut verstanden haben, dass es dadurch zu dem so genannten „Damenfrieden“ gekommen sein soll. Ein Krieg zwischen Brandenburg-Preußen und Österreich soll verhindert worden sein, was die Geschichte Europas maßgeblich veränderte.
Eigentlich hatten wir uns Coppenbrügge als Wendepunkt unserer Radtour ausgesucht. Doch da wir nun so gut im Tritt sind, radeln wir noch ein paar Kilometer weiter um den Ith herum. An dessen Westseite liegt das Dorf Bisperopde, und auch dort gibt es Interessantes zu sehen, nämlich ein Wasserschloss. Schloss Bisperode wurde 1694 bis 1700 vom Paderborner Fürstbischof Hermann Werner von Wolff-Metternich zur Gracht – was für ein Name – errichtet. Mit dem gegenüberliegendem Gutshof ist es eine prächtige Anlage. Drei große Flügel, der Wassergraben mit Brücke und Elemente der Weserrenaissance lassen es eindrucksvoll erscheinen.
Der Zusatzweg hat sich gelohnt. Doch damit sind wir nun endgültig am Wendepunkt unserer Tour angekommen. Der Rückweg führt uns erneut nach Coppenbrügge zurück. Von dort über die Höhe zwischen Osterwald und Kleiner Deister und an der Holzmühle vorbei nach Eldagsen. Quer durch die Feldmark und über diverse Dörfer erreichen wir am frühen Abend wieder Hannover.
Es war mal wieder eine großartige Radtour. Einige der auf der Strecke angesteuerten Ziele werden wir irgendwann noch einmal extra besuchen und uns dann jeweils mehr Zeit dafür nehmen. Viel Landschaft, schöne Dörfer und eine Menge Historisches haben wir entdeckt und erkundet und dabei viel Wissenswertes erfahren. Es ist einfach schön, mit dem Rad unterwegs zu sein, denn mit dem Wagen fährt man an vielen Sehenswerten einfach vorbei ohne es überhaupt wahrzunehmen. Und natürlich macht Bewegung auch Spaß und gibt uns ein gutes Gefühl.
Siehe auch: Das Calenberger Land zwischen Leine und Deister
Hallo Kurt,
ja, immer wenn ich einmal hier bin, in meiner alten Heimat.. habe ich solche Bilder im Kopf!
Schöne Tour!
Viele Grüße
Rolf