Mit einem Spaziergang über den jüdischen Friedhof begann alles ...
Im Mai hielt Bernhard Gelderblom vor den Teilnehmenden des Projekts "Schreiben gegen das Vergessen" einen Vortrag über die Erforschung der Geschichte der Juden in und um Hameln. Für seine Arbeit ist der Historiker und ehemalige Lehrer 2008 mit dem Bundesverdienstkreuz am Bande und 2009 mit dem Obermayer German Jewish History Award ausgezeichnet worden. Zu Gast waren die Schüler/innen des Werte und Normen-Kurses des 8. Jahrgangs der A-E-S.
Anne Voß (16) verfasste für die Dokumentation unseres Projekts den nachfolgenden Bericht:
Für unsere heutige Sitzung hatten wir ganz besonderen Besuch eingeladen: Den Historiker und ehemaligen Lehrer (Albert-Einstein-Gymnasium in Hameln) Bernhard Gelderblom. Herr Gelderblom hat seit nunmehr über 25 Jahre die Geschichte der Juden in und um Hameln erforscht und was er uns zu erzählen hatte, war somit besonders interessant.
Sein Interesse speziell an diesem Thema entstand während eines Spaziergangs auf dem jüdischen Friedhof in Hameln. Da es seit der NS-Zeit keine Juden mehr in Hameln gab und sich auch sonst niemand um den Friedhof kümmerte, war er in einem schlechten Zustand. Herr Gelderblom selbst beschrieb ihn als einen „vergessenen Ort“.
Die ersten Grabsteine dort sind im Jahre 1741 aufgestellt worden – ausnahmslos alle waren aber ziemlich mitgenommen, zahlreiche in der NS-Zeit sogar komplett zerstört worden. Herr Gelderblom setzte sich für eine bessere Pflege des Ortes ein. Er selbst veranstaltete Führungen über den Friedhof.
Die Namen auf den Grabsteinen inspirierten ihn zu weiteren Nachforschungen und so begann er 1985, Einzelschicksale zu recherchieren. Die Nachforschungen gestalteten sich schwierig, da es kompliziert war, an die benötigten Akten heranzukommen. Die Arbeit bedurfte einer gewissen Beharrlichkeit, um erste Erfolge verzeichnen zu können.
Noch wichtiger als die Suche nach Akten waren für ihn Kontakte zu den ehemaligen Hamelner jüdischen Bürgern. So erzählte uns Herr Gelderblom vom Schicksal eines Mädchens. Wir sahen ein auf Leinwand projiziertes Foto von ihr und weiteren Juden – ein Klassenfoto zusammen mit ihrem Lehrer. Alle diese Kinder konnten entkommen, auch Ruth Bienheim. Sie war 8 Jahre alt, als Hitler an die Macht kam. Ihr Vater war Rechtsanwalt und hatte bald unter der Diskriminierung und dem Boykott der Nazis zu leiden. Schlussendlich war er arbeitslos. Viele Juden waren zu dem Zeitpunkt bereits ausgewandert und so hatte Ruth kaum noch jüdische Mitschüler. Dieser Umstand trieb sie bald in die Isolation. Als ihre Klasse einen Badeausflug machte und sie mitkommen musste, wurde klar, dass Baden für sie keinen Spaß mehr machen sollte: Eine ihrer Mitschülerinnen rief, dass alle aus dem Wasser kommen müssten, da eine Jüdin im Wasser schwömme. Kein Kino, kein Baden in einer Badeanstalt – eigentlich war ihr nichts mehr erlaubt, was Spaß hätte machen können.
So wanderte Ruth 1938 schließlich mit ihren Eltern nach Palästina aus – kurz bevor in Deutschland die Synagogen angezündet wurden. Im Gegensatz zu ihrem Vater lebte sie sich den Umständen entsprechend gut ein und wohnt auch heute noch in Israel, wo Herr Gelderblom sie ausfindig gemacht hatte.
Ruth Birnbaum teilt ein ähnliches Schicksal: auch sie war auf dem Klassenfoto von damals zu sehen; auch sie floh schlussendlich in das heutige Israel. Mit 15 Jahren war sie nach Holland gegangen, wo sie ein Ausbildungslager für landwirtschaftliche Arbeiten besuchte, um die Genehmigung zu bekommen, nach Palästina einreisen zu können. Sie war nach Palästina ohne ihre Eltern geflohen und bekam nur noch Nachrichten von ihnen anhand von Briefen, die über das Rote Kreuz geschickt wurden. Über diese Briefe erfuhr sie auch, dass ihre Mutter sich wegen der Verfolgung das Leben genommen hatte und dass ihr Vater in das Warschauer Ghetto deportiert worden war, wo er letztlich umgekommen ist.
Susanne Herzberg hat wieder eine andere Geschichte: Sie wurde 1928 geboren. Ihren Vater lernten wir als stolzen Sanitätsarzt im ersten Weltkrieg kennen. Als Arzt praktizierte er auch später noch, bis der Boykott der Nazis auch ihn erreichte. Eine gute bürgerliche deutsche Familie verlor so jegliches Ansehen. Dies erreichte einen Höhepunkt, als Gerüchte über den Vater gebracht wurden, er hätte Frauen in seiner Arztpraxis vergewaltigt. Schlussendlich floh die Familie nach Berlin, aber auch hier konnte der Vater nicht länger praktizieren: er war ja ein Jude. Weiter ging es nach Italien, wo sich die Familie trennte: Die Tochter Susanne ging nach Holland, die Eltern flohen nach Frankreich. Doch auch hier gelang es ihnen nicht, zur Ruhe zu kommen. So flohen sie gemeinsam nach Brasilien, wo Susannes Vater starb. Die Mutter zerbrach seelisch an diesem Ereignis und so musste die Tochter ihre Mutter so gut es ging unterstützen. In ihren Briefen an Herrn Gelderblom beschreibt sie ein ständiges Grundempfinden von Angst, das Bestreben nicht aufzufallen und toleriert zu werden. Susanne Herzberg ist Sozialarbeiterin geworden; sie will anderen helfen – was sich aus ihrer Biografie erklären mag.
Herr Gelderblom hat mehr als einmal betont, wie ungeheuerlich er es empfindet, dass Kinder auf der Welt existierten, die deportiert wurden, ohne ihre Spuren zu hinterlassen.
So war es zum Beispiel mit Hannelore Zeckendorf. In dem Dorf Hemmendorf bei Hameln, in dem sie gelebt hatte, wurde sie als immer fröhlich und nett beschrieben. Sie lebte dort in einem Haus, das ihre Familie seit gut 200 Jahren bewohnt hatte. Doch um 1938 verliert sich bereits ihre Spur. Bekannt ist, dass ihr Vater während der Pogromnacht, wie viele andere jüdische Männer, nach Buchenwald gebracht wurde, wo er letztlich an den Prügelattacken starb. Des Weiteren ist bekannt, dass Hannelores Mutter 1940 nach Hannover ging, um dem dörflichen Naziterror zu entgehen. Doch bald kehrte sie zurück und ging schließlich nach Göttingen. 1942 wurde sie von dort gemeinsam mit ihrer Tochter deportiert. Wo Hannelore aber in der Zwischenzeit war, ist ungewiss. Wahrscheinlich war sie 1942 bei einer Tante in Köln, um die Flucht vorzubereiten, jedoch vergebens.
Ein ähnlich trauriges Schicksal erlitt Ingrid Friedheim. Ihre Mutter Sofie war Näherin. Sie hatte sich vermutlich taufen lassen, jedenfalls sehen wir die Familie Ingrids auf einem Foto: Sie feiern Weihnachten. So oder so hatte die Familie jüdische Vorfahren und so wurde auch sie von den NS-Leuten schikaniert. Am 14.11.1936 kommt Ingrid zur Welt. Sie hat es doppelt schwer: Neben den jüdischen Vorfahren, die sie hat, ist sie auch noch die uneheliche Tochter eines Ariers. Dieser lässt Ingrids Mutter natürlich sitzen. Er wollte sich ja nicht mit einer Jüdin einlassen. Und so stand Sofie allein mit ihrer Tochter da. Schließlich heiratete sie einen Mann, der ein ähnliches Schicksal teilte: Er war auch Jude und Vater. Die Familie wurde bald nach Hannover-Ahlem gebracht. Acht Monate verbrachte sie dort, gefangen unter den schändlichsten Umständen. Danach wurde sie nach Auschwitz deportiert, wo die Männer arbeiten mussten und die Frauen sofort umgebracht wurden.
Herr Gelderblom zeigte uns noch zwei Bilder eines von einem Künstler gestalteten Mahnmals am Bahnhof Grunewald in Berlin zum Gedenken an die mehr als 50.000 Juden Berlins, die von dort in Vernichtungslager deportiert und ermordet wurden. Die Fotos zeigen die Abdrücke gleichsam einbetonierter Menschen, die allmählich kleiner werden, sich aufzulösen scheinen. Sie verschwinden, hinterlassen keine Spuren.
Wir hatten noch ein wenig Gelegenheit, mit Herrn Gelderblom zu sprechen und so kamen wir bald auf das Thema, wie Juden systematisch schikaniert wurden. In der NS-Zeit waren Juden gezwungen, ihre Angehörigen nur noch ohne Särge und ohne Grabsteine zu beerdigen. Niemand wollte mehr etwas für Juden herstellen, niemand wollte ihnen helfen. Dabei war nie eindeutig, ob es sich um Antisemiten handelte oder ob die Menschen einfach Angst vor Bestrafung hatten.
Wir fragten Herrn Gelderblom, ob er während seiner Arbeit auf Widerstand gestoßen sei und so sind wir in die Thematik eingestiegen, dass viele Menschen versuchen, die Zeit des Nationalsozialismus zu verdrängen. Fünf Jahre hat es gedauert, bis Herr Gelderblom erreichen konnte, dass eine Gedenktafel am ehemaligen Hamelner Zuchthaus (das heute übrigens düstererweise ein Hotel ist) aufgestellt wird.
Die Geschichte dieses Zuchthauses, in dem vor allem politische Häftlinge, Homosexuelle und Rundfunkverbrecher festgehalten wurden, brachte uns auf die Geschichte der Zwangsarbeiterin Maria Sabliwaja. Sie war 15 Jahre alt, als sie auf Grund ihrer ukrainischen Herkunft deportiert wurde. Herr Gelderblom konnte mit ihr Kontakt aufnehmen. Sie ist in die Nähe ihres Geburtsdorfes zurückgekehrt und arbeitet nun dort zusammen mit ihrer Familie. Mit Hilfen von Spenden, die vor allem von Firmen kamen, die einmal selbst Zwangsarbeiter beschäftigt hatten, holte Herr Gelderblom Maria und andere Frauen aus der Ukraine zurück nach Hameln, an den Ort, an dem sie viele Jahre ihres Lebens verbringen musste.
Es ist unfassbar, was für Einzelschicksale sich hinter dem großen Begriff des Nationalsozialismus verbergen. Herr Gelderblom hat viele dieser Einzelschicksale für die Nachwelt wieder lebendig werden lassen.
Ich kann mich nur noch mal im Namen aller Projektteilnehmer auf diesem Weg herzlich bedanken.
Anne Voß
Weitere Berichte über unsere Projektstunden und Veranstaltungen finden sich
Bürgerreporter:in:Corinna Luedtke aus Laatzen |
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